Expertinnen-Interview: Hochbegabung – Was, wenn das Kind „wirklich“ weit ist für sein Alter?

Wahrscheinlich hat jede Mutter oder jeder Vater folgenden Satz zumindest schon einmal selbst gesagt, oder selbst gehört: „Das Kind ist ja total weit für sein Alter!“ Seltsam, stellen sich bei den meisten Eltern eigentlich die Nackenhaare hoch, wenn er ausgesprochen wird. Denn schon lange bedeutet der Satz nicht mehr nur, dass ein kleines Kind irgendetwas schon super gut kann und alle mächtig stolz drauf sind. Vielmehr ist er der Inbegriff für den stetigen Kinder-Leistungs-Vergleich, dem sich Mütter und Väter aussetzen und damit nicht nur sich selbst, sondern auch ihre Kinder stressen.

Ein Kind muss nicht bis zum ersten Lebensjahr laufen können, bis zum zweiten Geburtstag mehr Wörter verstehen als das Nachbarskind oder schon im Kindergarten die ersten Wörter schreiben können, um es in der Volksschule leichter zu haben, oder etwas „Besonderes“ zu sein. Denn das sind grundsätzlich alle Kinder. Sowieso.

Doch, wie geht man damit um, wenn der Zwerg tatsächlich besondere Fähigkeiten aufweist, die andere Kinder nicht haben? Zum Beispiel in Form einer Hochbegabung, oder dem „Potenzial für herausragende Leistung“, wie man heute korrekt dazu sagt. Was bedeutet das für das Kind … und auch für die Schule?

Schulleiterin der Evangelischen Volksschule Gumpendorf Barbara Bauer und ihre Kollegin Nina Dlouhy, sie führt die Evangelische Volksschule Währing/Lutherschule, erklären, warum es einen Unterschied macht, ob man „Begabte“ oder „Begabungen“ fördert:

Wie erkennt man als Elternteil, dass das eigene Kind über „Potenzial für herausragende Leistung“ verfügt? Gibt es „typische“ erste Hinweise?

Nina Dlouhy: Hochbegabt ist nicht gleich hochbegabt. Es gibt sicherlich Unterschiede! Aber meist geht Hochbegabung mit dem Überspringen einiger Entwicklungsphasen einher. Oft können die Kinder nichts mit Gleichaltrigen anfangen, weil sie schlichtweg ganz andere Interessen haben.

Barbara Bauer: Meist sind die Naturwissenschaften oder auch der mathematische Bereich ein großes Thema. Die Neugier der Kinder ist fast nicht zu stillen. Lesen und Rechtschreiben bringen sie sich quasi selbst bei.

An wen sollte man sich wenden, wenn man eine Hochbegabung vermutet?

Nina Dlouhy: Die erste Anlaufstelle können Kindergartenpädagog:innen oder Lehrer:innen sein. Das Thema sollte auch bei der Schuleinschreibung offen angesprochen werden. Zur Feststellung einer Hochbegabung können sich Eltern natürlich an Psycholog:innen wenden. Hier bitte Vorsicht! Nicht alle Tests sind auf dem neuesten Stand und für die Messung von Hochbegabung geeignet. In Wien ist das Begabungsförderungszentrum der Bildungsdirektion eine gute Anlaufstelle. Hier können sich Eltern auch nach seriösen und geeigneten Testbatterien erkundigen.

Wie sagt man einem doch eigentlich noch recht kleinen Kind, dass es schlauer ist bzw. einen deutlich höheren IQ hat als andere?

Barbara Bauer: Hier spalten sich die Meinungen: Einige Eltern gehen recht offen mit dem Thema Hochbegabung um, andere wiederum verzichten auf eine Testung oder informieren ihr Kinder nicht über deren Ergebnis.

Nina Dlouhy: Ich denke, dass persönliche Erfahrungen hier eine entscheidende Rolle spielen. Es gibt Schüler:innen, die in ihrer – mitunter auch kurzen – Schullaufbahn bereits negative Erfahrungen erlitten haben: (Fehl-) Diagnosen wie Hochsensibilität oder ADHS, nachgesagte Unwilligkeit oder Verhaltensauffälligkeiten spielen hier eine Rolle. Diese Kinder leiden unter ihrem „Anderssein“. Ich kenne zum Beispiel ein Kind, das außergewöhnlich gut lesen kann, sich aber weigert ein Buch mit höherer Altersangabe zu lesen.

Barbara Bauer: Aus meiner Sicht ist ein offenes Gespräch mit Kindern wichtig. Die Kinder merken auf jeden Fall, dass sie anders lernen oder schneller sind als ihre Mitschüler:innen. Eltern können ihren Kindern erklären, dass jede:r Stärken in unterschiedlichen Bereichen hat, und jede:r „anders besonders“ ist. Die Kinder sollen sich nicht einsam fühlen, daher ist es gut, wenn Eltern Freundschaften mit älteren Kindern fördern und es in der Schule die Möglichkeit gibt, auch auf einer anderen Schulstufe mit dabei zu sein. Im besten Fall wird die Diagnostik noch vor dem Schuleintritt gestartet, damit die richtige Schule ausgesucht werden kann.

Foto (c) Pixabay

Welche besonderen Bedürfnisse können bei einer „Hochbegabung“ auftreten?

Nina Dlouhy: Viele Hochbegabte verfügen über eine schnelle Auffassungsgabe und ein ausgeprägtes Gedächtnis. Der Großteil hochbegabter Schüler:innen hat ein besonders ausgeprägtes Interesse in einem Bereich, während andere Bereiche eventuell vernachlässigt sind. Wenn Kinder beispielsweise im sozialen Bereich hinterherhinken, kann die Schule ausgleichend eingreifen und den Eltern beratend zur Seite stehen.

Barbara Bauer: In den ersten Lernjahren fällt Kindern mit Potenzial für herausragende Leistungen vieles einfach zu. Wenn dann irgendwann der Punkt kommt, an dem sie wirklich etwas erarbeiten oder üben müssen, sind diese Kinder oft frustriert, weil sich der Erfolg nicht wie gewohnt einstellt und sie auch nicht über die gleichen Lernstrategien verfügen wie ihre Mitschüler:innen.

Wie geht man als Schule damit um, wenn ein Kind solche Begabungen hat?

Nina Dlouhy: Als Schule ist es wichtig, alle Kinder dort abzuholen, wo sie gerade stehen, an ihre Vorerfahrungen anzuknüpfen und eine individuelle und differenzierte Förderung anzubieten. Durch Unterrichts- und Fördermethoden wie Akzeleration und Enrichment, Drehtürmodell oder Freiarbeit (diese Begriffe werden hier erklärt) können nicht nur hochbegabte, sondern alle Kinder massiv profitieren. Damit beugt man auch vor, dass nicht ein Kind besonders behandelt wird, sondern ein erweitertes Angebot für alle Kinder besteht.

Ist es notwendig in eine „Schule für Hochbegabte“ zu wechseln?

Barbar Bauer: Nein – theoretisch kann jede Schule individualisieren und differenzieren. Wenn Eltern aber das Gefühl haben, dass ihre Kinder nicht ausreichend gefördert werden und den Spaß am Lernen verlieren, dann sollte das Thema unbedingt bei den zuständigen Pädagog:innen, Lehrer:innen oder der jeweiligen Leitung offen angesprochen werden. Einen Schulwechsel würde ich aber nur als letzten Schritt empfehlen.

Wie kann man als Schule, Schüler:innen mit einem überdurchschnittlichen Potenzial am besten unterstützen?

Nina Dlouhy: Eine begabungs- und begabtenfördernde Schule stellt das dem Kind zugrundeliegende „Potential“ in den Mittelpunkt. Wir legen Wert auf die ganzheitliche Förderung: Das bedeutet, dass nicht nur die Leistung gesehen wird, sondern auch großer Wert auf die Persönlichkeitsbildung unter Einbeziehung von selbständigem Denken, Eigenverantwortung und Partizipation gelegt wird. So wird jedes Kind optimal gefordert und gefördert und auch der soziale Bereich kommt nicht zu kurz.

Wie offen sind die Lehrer:innen dem Thema gegenüber?

Barbara Bauer: Lehrer:innen sollten dem Thema (Hoch)Begabung offen gegenüberstehen und vermeiden, hochbegabte Schüler:innen in Schubladen zu stecken. Es gibt zahlreiche Fortbildungen und Hochschullehrgänge (z.B. den ECHA-Diplomkurs), die Lehrer:innen Spezialisierungen ermöglichen und sie in der professionellen Begleitung von hochbegabten Kindern unterstützen.

Wie gehen Ihre Volksschulen in Wien-Gumpendorf und in Wien-Währing mit Kindern um, die über „Potenzial für herausragende Leistung“ verfügen?

Nina Dlouhy: Die Evangelische Volksschule Währing / Lutherschule ist eine zertifizierte Begabungsfördernde Volksschule. Viele unserer Lehrer:innen verfügen über eine spezielle Ausbildung im Bereich Begabungsförderung, und das ganze Kollegium schaut darauf, dass Kindern individuelle Förderangebote gemacht werden. Unser Förderkonzept sieht die Möglichkeit vor, dass Kinder früher eingeschult werden oder die Schulstufe wechseln, wenn dadurch der Begabung des Kindes eher entsprochen wird. Unser „Drehtürmodell“ erlaubt Kindern, sich mit etwas Abstand zum Unterricht mit einem Thema auseinanderzusetzen. Projekt- und Freiarbeit kommen nicht zu kurz und Lernwerkstätten und Ateliertage runden das Angebot ab.

Barbara Bauer: Die Evangelische Volksschule Gumpendorf wird vom Begabungsförderungszentrum der Bildungsdirektion empfohlen. Bei der Schuleinschreibung achte ich auf Anzeichen für herausragendes Potenzial. Auch bei uns können Kinder Schulstufen wechseln, in einzelnen Gegenständen eine andere Schulstufe besuchen oder stundenweise in höheren Klassen „schnuppern“. In unserem Kindergarten, der sich im gleichen Haus befindet, werden Kinder im letzten Kindergartenjahr gefördert, denen im „normalen“ Kindergarten langweilig ist. Dadurch kommen oft Kinder mit großem Potential zu uns. Wenn Kinder privat Zeit für Ihre Talente brauchen, versuchen wir als Schule darauf Rücksicht zu nehmen. Wir haben Verständnis, dass Wettkämpfe, Proben und Aufführungen Zeit kosten und tragen unseren Teil dazu bei, damit sich diese gut mit dem Schulalltag vereinbaren lassen.

Barbara Bauer ist Schulleiterin der Evangelischen Volksschule Gumpendorf und hat sich das Thema Hochbegabung zum Schwerpunkt gemacht „Es ist Aufgabe der Schule, der Verschiedenheit der Kinder Rechnung zu tragen“, ist sie überzeugt.

Ihr Kollegin Nina Dlouhy führt die Evangelische Volksschule Währing/Lutherschule, und damit eine zertifizierte begabungsfördernde Schule.

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